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Eine Weltkarte mit zu viel Schwarz

Fund aus dem Keller der St. Liborius-Kirche von Saint Louis (Missouri): Mit solchen Aufklebern versuchte die stark schrumpfende Pfarrgemeinde in den 1980er Jahren, die Abwanderung von Katholiken zu stoppen und jene, die schon in einen anderen Stadtbezirk umgezogen waren, zur Rückkehr zu bewegen. Foto: Stüken

Wie St. Liborius am Mississippi
eine „zweite Chance“ erhielt

Einer der vier Libori-„Richtungsweiser“ . Foto: Stüken

„Liborius in der Welt“ lautete der Titel der Kunstinstallation auf dem Paderborner Marktplatz, die Tobias Kammerer (Rottweil) im Auftrag des Erzbistums zu Libori 2020 geschaffen hat. Vier auf schweren Betonsockeln stehende, 3,60 Meter hohe gläserne „Richtungsweiser“, farblich gestaltete, stilisierte Pfauenfedern, lenken die Blicke auf sich. Sie sollen in Corona-Zeiten auch über Libori  hinaus bis zum Ende der Rubens-Ausstellung (bis 25. Oktober 2020 im Diözesanmuseum) aufzeigen, wie die Verehrung des Paderborner Bistumspatrons in alle Welt gelangt ist.

Weihbischof Matthias König lobte die „gelungene künstlerische Gestaltung“ der Installation, „die an Beispielen aufschließt, wohin überall Reliquien und die Verehrung des hl. Liborius gelangt sind“. Auf den Sockeln der „Richtungsweiser“ ist eine Weltkarte zu sehen. Und weil es eine moderne Ausstellung ist, findet sich am Fuß der Glasstelen auch ein per Smartphone abrufbarer QR-Code (QR = Quick Response = rasche Antwort). Mit dessen Hilfe können weiter gehende Informationen zur Liborius-Verehrung, darunter auch Audio-Dateien, abgerufen werden.

Mitglieder des Deutsch-Amerikanischen Freundeskreises Paderborn (DAFK) und andere Amerikafreunde reiben sich während des Bummels über den Marktplatz beim Blick auf die Weltkarte der Libori-Verbreitung verwundert die Augen. Sie sehen sie buchstäblich schwarz: Es fehlt auf den großen gläsernen Stelen jeglicher Hinweis auf eine Liboriverehrung in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Dasselbe galt für die 16 kleineren „Flags“, die während der Libori-Festwoche zwischen den großen „Richtungsweisern“ auf dem Marktplatz verteilt waren und einzelne Orte der Liboriverehrung  besonders herausstellen sollten.

Dabei gibt es ganz in der Nähe der Paderborner Partnerstadt Belleville im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten gleich zwei solcher Orte: Da ist zum einen die ehemalige St. Liborius-Kirche in St. Louis (Missouri). Aus ihr stammt der Pfauenstuhl (Peacock-Chair) im Foyer des Paderborner Rathauses. Und dann  gibt es den Ort St. Libory im  St. Clair County (Illinois), dessen Kreisstadt die Paderborner Partnerstadt ist. St. Libory gehört zur Diözese Belleville. An dessen Spitze steht seit Juli 2020 der neue Bischof Michael G. McGovern. Die Pfarrgemeinde in St. Libory ist wahrscheinlich der älteste Ort der Liboriverehrung in einem außereuropäischen Land. Doch auf der Liborius-Weltkarte des Erzbistums: Fehlanzeige.

Ganz Nordamerika ist komplett schwarz dargestellt: Als gäbe es dort gar keine Verehrung des Paderborner Bistumsheiligen. Foto: Stüken

Westfälische Amerika-Auswanderer des 19. Jahrhunderts und katholische Priester, die ihnen nachfolgten, nahmen Liborius mit „über den großen Teich“. Wäre der geplante Paderborn-Besuch einer Gruppe aus Belleville zu Libori nicht dem coronabedingten Reisestopp zum Opfer gefallen – die Gäste hätten auf dem Paderborner Marktplatz angesichts der Liborius-Weltkarte wahrscheinlich ziemlich enttäuscht dreingeschaut.

„Lassen Sie sich durch die Symbolik der Installation, aber auch durch die (digital abrufbaren) Informationen mit hineinnehmen in die Wirkungsgeschichte des hl. Bischofs Liborius, der nach wie vor Brückenbauer zwischen Völkern und Ortskirchen ist – eben: Liborius in aller Welt!“, schreibt Weihbischof König in der vom Erzbistum herausgegebenen Broschüre zur Kunstinstallation.

Wohl doch nicht in aller Welt: Dabei bietet die  ehemalige St. Liboriuskirche von St. Louis, wegen ihrer Schönheit und Größe einst als „Kathedrale des Nordens“ der Stadt am Mississippi bewundert, den Stoff für spannende Geschichte(n). Fast 30 Jahre sind es her, seit das Erzbistum St. Louis dieses markante Gotteshaus Ende 1991 geschlossen hat – wegen der rapide gesunkenen Zahl von Gläubigen und des Abdriftens dieses Stadtbezirks in ein tristes Slumviertel.

Vom DAFK im Jahre 2013 herausgegeben: Die Broschüre über den im Rathaus stehenden Pfauenstuhl aus St. Louis. Foto: Stüken

Und 28  Jahre sind vergangen, seit die Erzdiözese St. Louis, öffentlichem Protest zum Trotz, Teile des Kircheninventars versteigern ließ. Ein Kneipenwirt von der anderen Mississippi-Seite, aus Belleville’s Nachbarort O’Fallon (Illinois), ersteigerte den Pfauenstuhl. In dessen Gastraum drohte das Kirchenmöbel sein weiteres Dasein als doppelsitziger Stammplatz für durstige Tresenhocker  zu fristen. In dieser Bar wurde der Pfauenstuhl 1993 zufällig von Ellen Rost, der Gründungspräsidentin des DAFK, entdeckt. Mit Hilfe Belleviller Freunde gelang ihr nach schwierigen Verhandlungen mit dem Wirt der Ankauf des Stuhles. Der auf der Mittellehne thronende Libori-Pfau  war plötzlich verschwunden, tauchte aber zum Glück bis zum Abtransport wieder auf. 1994 wurde der Pfauenstuhl nach Rotterdam verschifft. In Paderborn wurde er auf Kosten Ellen Rosts restauriert und 1995 als Geschenk an den Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis übertragen. Der DAFK übergab den Stuhl sogleich als Erinnerung an die Geschichte westfälischer Amerika-Auswanderer der Stadt Paderborn als Dauerleihgabe.

Das geräumige Kirchengebäude von St. Liborius in St. Louis diente vorübergehend als Depot für Inventar aus anderen stillgelegten Kirchen im Erzbistum St. Louis. Aus diesem Fundus konnten sich interessierte Pfarreien bedienen. Etwa um das Jahr  2005 verkaufte die Erzdiözese St. Louis das Kirchengebäude von St. Liborius an einen Zusammenschluss privater Interessenten. Als der DAFK zu seinem 25-jährigen Bestehen 2013 die Broschüre „Zur Geschichte des Pfauenstuhls im Paderborner Rathaus“ herausgab, wurden in St. Louis gerade Überlegungen angestellt, in dem stillgelegten Kirchenschiff riesige Wasserbecken für eine  ökologische Fisch- und Nutzpflanzenzucht zu installieren. Ein Plan, der ins Wasser fiel.

Neue Nutzung für eine alte Kirche: Skater haben St. Liborius erobert. Foto: SK8 Liborius

Doch der Kirchen-Leerstand ist beendet. St. Liborius kommt heute ganz sportlich daher.  Die neugotische, auf der Denkmalliste sowohl der Stadt St. Louis als auch im „US National Register of Historic Places“  stehende Kirche ist im Begriff, sich auch überregional einen Ruf als Mekka für Skater zu erobern. Betreiber des privaten Skateparks ist ein Verein namens SK8 Liborius. SK8 ist eine Kurzformel, die in falscher Schreibweise aus dem englischen Skate in Kombination mit der 8 (= Skeight, abgekürzt SK8) gebildet wurde. SK8 ist in der Szene auch als Markenname für Skaterzubehör ein Begriff – in Kombination mit dem Namen Liborius gibt es ihn jedoch nur einmal.  

Die jungen Sportler schwärmen von einem geradezu himmlischen Vergnügen. Im Hintergrund die bemalte Ruine des einstigen Hochaltars im Chorraum der Kirche. Foto: SK8 Liborius

Bevor in dem zur Sportstätte  umfunktionierten Kirchenschiff eine imposante Rampenanlage installiert werden konnte, galt es für die Aktiven des SK8 Liborius, erst einmal Berge von Müll zu beseitigen, der sich in den Jahren des Tiefschlafs in und an der Kirche angesammelt hatte. Auch mussten erst einmal dringende Reparaturen an Dach und Turmrumpf vorgenommen werden.

An Öffnungstagen der ungewöhnlichen Sportstätte erhalten Skatefans kostenlosen Zutritt. Bei Wettbewerben können sie  für eine Fünf-Dollar-Spende dabei sein. Das Geld fließt in den weiteren Ausbau des ungewöhnlichen Skateparks, aber auch in weitere Sanierungsarbeiten am Gebäude. US-Größen der Skaterszene, aber auch Akrobaten auf  BMX-Rädern gaben bereits waghalsige Gastspiele in dem umfunktionierten Kirchenschiff. Wo einst die baulichen Überbleibsel der Altäre für einen eher traurigen Anblick sorgten, ziehen jetzt grelle Graffittis die Blicke an.

Als eine kleine Gruppe von vier  Ordensschwestern während der Umbauarbeiten die ehemalige Kirche in Augenschein nehmen wollte, halfen freundliche Skater den frommen Frauen, auf Rollbretter zu steigen. Die Schwestern wurden an die Hand genommen und durch das Gebäude gezogen. Eine von ihnen sei vor Rührung in Tränen ausgebrochen, schilderte  ein Projektverantwortlicher damals der Zeitung National Catholic Reporter. „Sie sagten, sie seien so glücklich, dass wir die Kirche gerettet haben – und die Arbeit des Herrn tun.“

Mit der Kamera einer Drohne aufgenommen: Die St.-Liborius-Kirche von St. Louis. Die Turmspitze war der des Freiburger Münsters nachempfunden. Als deren Sandsteinelemente zu bröckeln begannen, musste sie in den 1960er Jahren abgetragen werden. Im Hintergrund der 192 Meter hohe, am Ufer des Mississippi stehende „Gateway Arch“, der das „Tor zum Westen“ symbolisiert und vom finnisch-amerikanischen Architekten Eero Saarinen geplant wurde. Das 1961 bis 1965 errichtete Kunstwerk aus Beton und Edelstahl ist das höchste Monument der USA. Rechts von der Kirche wächst eine Siedlung mit neuen Häusern – ein gutes Zeichen, dass es wieder junge Familien in diesen Stadtbezirk zieht. Foto: SK8 Liborius

Auf der Skateanlage sind aber nicht nur junge Leute unterwegs – manchmal wird es dort unter dem hohen Kirchengewölbe mit seinen teilweise gut erhaltenen Kirchenmalereien auch ganz still: Wenn Teilnehmer von Yoga-Kursen die besondere Atmosphäre dieses Raumes, das ungewöhnliche Aufeinandertreffen von Punk-Kultur und Spiritualität, auf sich wirken lassen.  „Willkommen im Himmel auf Erden für Skater“, stellte 2018 das US-Reisemagazin „Atlas Obscura“, das sich als Online-Führer  zu  verborgenen Plätzen der Welt versteht, das „zweite Leben“ von St. Liborius in St. Louis vor.

Blick auf die Rampenanlage im großen Kirchenschiff. Foto: SK8 Liborius

Das Kölner „Domradio“, zu Libori seit Jahren mit seiner TV-Übertragungstechnik  Gast im und am Paderborner Dom, stellte auf seiner Webseite 2019 das Projekt in St. Louis so vor: „Eine US-Kirche mit deutschen Wurzeln wird zum Skater-Paradies.“

Ganz schön waghalsig: Ein Skater nimmt gekonnt das nächste Hindernis. Foto: SK8 Liborius

Thomas Spang von der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) war der Verfasser des Berichts. Er schrieb: „Das Aussterben ehemals großer Gemeinden hinterlässt nicht selten verwaiste Kirchen. In der Mississippi-Metropole St. Louis erwecken Skater ein altes katholisches Gotteshaus zu neuem Leben – und ernten dafür Zustimmung. Sie stürzen sich die steile Half-Pipe hinunter, rasen an der gegenüberliegenden Wand wieder hoch, um auf dem Gipfel der Geschwindigkeit mit dem Rollbrett in der Luft eine Pirouette zu drehen. Nichts Außergewöhnliches unter Skatern, jenen waghalsigen Teenagern ­– allerdings nicht in einem Gotteshaus. Doch genau das hat der Sankt-Liborius-Kirche in St. Louis (Bundesstaat Missouri) wieder Leben eingehaucht. Die ehemalige katholische Kirche zählt mit ihrer fast vier Meter hohen Rampe direkt unter der früheren Kanzel zu den anspruchsvollsten Half-Pipes der städtischen Skater-Szene. Kein Fall für Kirchen-Puristen, aber durchaus ein spiritueller Erfolg, der echten Gemeinschaftssinn stiftet.“

Die Website des „Domradios“ zitierte Dave Blum von der neuen Eigentümergesellschaft, die Sankt Liborius „in einen Skater-Tempel verwandelt“ habe. Hauptziel sei es gewesen, dieses Gebäude zu retten, sagte Blum, „und ich weiß, dass wir das getan haben“.  Einige Jahre später wäre der Verfall nicht mehr aufzuhalten gewesen. Nun aber sei das Gotteshaus ein Magnet für junge Menschen, zugleich „eine Speerspitze“ in der Sozialarbeit des Stadtviertels. Solch eine neue Verwendung ehemaliger Gotteshäuser helfe den Kommunen, die spirituelle Wirkung ihrer Kirchen zu erhalten – auch in „SK8 Liborius“.  Und unabhängig davon, ob der Herrgott die lärmende Raserei auf den Rollbrettern in seinem Haus mit Wohlwollen betrachte. . .I

m Norden von St. Louis siedelten in den 1850er Jahren viele westfälische Auswanderer. So viele, dass das Viertel bald „Klein-Paderborn“ genannt wurde. 1856 wurde die deutschsprachige St. Liborius-Gemeinde gegründet. Und Gelände für den Bau einer ersten Kirche erworben. Noch im selben Jahr wurde der Grundstein gelegt. Das enorme Wachstum der Gemeinde erforderte bereits in den 1880er Jahren den Bau einer erheblich größeren Kirche – des heutigen Skater-Paradieses. Der Kirchbau wurde 1889 vollendet. Ein Jahr später folgte das Pfarrhaus, und die Schulschwestern des Ordens ,,Notre Dame“, erhielten 1905 – als Abrundung des Gebäudeensembles aus rotem Backstein – direkt neben der Kirche ein schmuckes Konventsgebäude.

Das Filmplakat zu dem in der ehemaligen St.-Liborius-Kirche gedrehten Streifen.

„Sanctuary“ heißt der knapp achtminütige Kurzfilm, den die aus Belleville’s Nachbarort Mascoutah stammende Filmemacherin Ashley Seering über die unerwartete „zweite Chance“ für die Liborius-Kirche drehte. Der Filmtitel „Sanctuary“ darf mit „Heiligtum“ (für Skater) übersetzt werden, steht aber auch für „Zufluchtsort“, und als solcher verkörpert das Projekt „SK8 Liborius“ auch neue Hoffnung für den Stadtteil und die hier lebenden jungen Menschen. Der Niedergang des Kirchengebäudes wie der des Viertels rund um North Market- und Hoogan Streets scheint gestoppt oder zumindest stark abgebremst zu sein. Der von Ashley Seering, Coautor Cory Byers und Seerings Produktionsfirma „Night Owl Productions” hergestellte Streifen wurde auf dem Internationalen Film-Festival 2017 in St. Louis  als „Bester Kurzfilm“ ausgezeichnet. Auf der Webseite der Produktionsfirma kann „Sanctuary“ in der Rubrik „Alle Videos“ angeklickt und betrachtet werden:

https://www.nightowlvideo.com/films

In dem Film kommt John Dudrey, ein ehemaliger Museums-Mitarbeiter aus St. Louis zu Wort. Er kümmert sich seit Jahren um das vom Erzbistum St. Louis aufgegebene Kirchengebäude. „Onkel John“, wie ihn die jungen Skater nennen, stellt die St. Liborius-Kirche mal als seine „Großmutter“, mal als seine  „Freundin“ vor. Immer ist er mit Tipps, Ratschlägen und Ideen zur Stelle, wenn es darum geht, weitere Schritte zum Erhalt des Bauwerks zu unternehmen oder den Ausbau des Skateparks voranzutreiben.  Er nennt den Sakralbau einen von zwei  „Heiligtümern“ seines Lebens, und wahrscheinlich sei St. Liborius auch sein letztes „Sanctuary“. Von der Geschichte dieser Kirche, so mahnt er, gelte es so viel wie möglich zu erhalten.

Bunte Bemalung: Ein Bild aus dem Film „Sanctuary“. Zwischen der Säule links und dem Türportal, das zur Sakristei führt, stand bis zur Versteigerung 1992 der Pfauenstuhl. Foto: Night Owl Productions

Im Basement der ehemaligen Kirche war nach der Stilllegung von St. Liborius durch die Erzdiözese St. Louis noch über Jahre eine Suppenküche mit Lebensmittelausgabe für Bedürftige in Betrieb, bis diese in eine der Nachbarpfarreien wechselte. Das ehemalige Schwesternhaus von St. Liborius wurde zu einer Anlaufstelle für Frauen in Not und ihre Kinder und wurde nach der ersten Bewohnerin „Karen House“ genannt.  Über viele Jahre arbeitete das „Karen House“ unter dem Dach der katholischen Sozialbewegung „Catholic Worker Movement“, die weltweit Häuser der Gastfreundschaft für benachteiligte Menschen betreibt. Sie hat den Kampf gegen Rassismus auf ihre Fahnen geschrieben und steht der katholischen Friedensbewegung „Pax Christi“ nahe. 2020 wechselte die Trägerschaft. Das Nachbarhaus von St. Liborius gehört nun zu der von Farbigen ins Leben gerufenen Organisation „City Hope STL“ (STL ist eine Abkürzung für St. Louis). Sie kümmert sich um wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in der Großstadt. Soziales Engagement Ehrenamtlicher wird damit im Umfeld von St. Liborius weiter groß geschrieben. 

Als sie noch als Gotteshaus diente: Der Hochaltar von St. Liborius mit der Kreuzigungsszene. Foto: Archiv
Heute Blickfang in der Kirche von Eureka: Die Kreuzigungsszene des ehemaligen Hochaltars von St. Liborius. Foto: Stüken
Ein Dankeschön für die Geschenke aus St. Louis: Das neue Liborius-Kirchenfenster. Foto: Stüken
Die Kirche in Eureka im Süden von St. Louis. Foto: Stüken

Es gibt aber auch ein religiöses Erbe der einst stolzen, von deutschen Amerika-Einwanderern erbauten Liborius-Kirche.  Vom demontierten, zu einer Ruine abgemagerten ehemaligen Hochaltar sicherte sich die südlich von St. Louis, am Interstate 44 Richtung Memphis gelegene katholische Kirchengemeinde „Most Sacred Heart“ in Eureka für ihre im Jahr 2000 eingeweihte neue Kirche die aus Marmor geschaffene große Skulpturengruppe der Kreuzigungsszene. Sie wurde auf einen hohen Sockel im hinteren Altarraum des Kirchenneubaus platziert. Auch Leuchter aus St. Liborius wechselten nach Eureka. Aus Dankbarkeit für diese Geschenke aus St. Louis widmete die Pfarrgemeinde in Eureka dem heiligen Liborius ein neues Kirchenfenster.  

Die Liborius-KIrche von St. Libory im Kreis St. Clair in der Nähe von Belleville. Foto: Stüken
Übertragung der Liborius-Reliquien anno 836 nach Paderborn. Kirchenfenster in St. Libory aus dem Jahre 1918 – ohne Pfau.
Foto: Stüken

Zwei Fenster, die viel mit St. Liborius St. Louis zu tun haben, finden sich auch in der Kirche von St. Libory in Illinois. Ein aus dem Jahre 1918 stammendes Kirchenfenster, das die Überführung der Liborius-Reliquien aus Le Mans im Jahre 836 darstellt, lässt den Schrein von gekrönten Häuptern und Bischöfen tragen und begleiten. Eine Darstellung, die die die Heiligkeit von Liborius unterstreichen sollte. Ein anderes Fenster zeigt St. Liborius bei seinem Wirken als Bischof. Beide Fenster stammen aus der angesehenen Werkstatt des Glaskünstlers Emil Frei (1869-1942) aus St. Louis, einem gebürtigen Münchener. Angesichts seiner Erfolge in den USA eröffnete Frei von St. Louis aus eine Filiale in seiner Heimatstadt München. Frei hatte mit diesen Liborius-Motiven und weiteren Szenen aus dem Leben des Paderborner Bistumspatrons schon im Jahre 1907 eine Reihe  sieben Meter hoher Kirchenfenster gestaltet. Diese wurden anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der St. Liborius-Gemeinde in der Kirche in St. Louis installiert.

Entwurf des Kirchenfensters aus dem Jahre 1907 für St. Liborius in St. Louis – mit dem über dem Schrein fliegenden Pfau. Eine Firmenanzeige von Emil Frei für das Jubiläumsbuch zum 75-jährigen Bestehen der Pfarrei in St. Louis.
Reproduktion: Stüken

Nach Schließung der Kirche wurden im Laufe der 1990er Jahre sechs dieser doppelten Lanzette-Fenster ausgebaut, durch Einfachverglasung ersetzt  und an ein Handelshaus für christliche Kunst im Staat New York verkauft. Der Verkaufserlös  floss in dringende Sicherungsmaßnahmen für das Kirchengebäude. Wohin und an wen die Liborius-Fenster weiterverkauft wurden, ist bis heute nicht bekannt. Die 1918 installierten Fenster in St. Libory sind Duplikate, die offenbar anhand der ursprünglichen Entwurfszeichnungen  mit geringfügigen Änderungen in der Werkstatt von Emil Frei gestaltet wurden. Eine der Änderungen: In St. Libory fliegt dem Schrein kein Pfau voran.

Als Schatz ihrer Geschichte bewahrt die St. Liborius-Gemeinde die Holzplatte jenes Tisches auf, an dem am 25. August 1838 der Präriepfarrer Caspar Heinrich Ostlangenberg (1810-1885) im Farmhaus von William Harwerth die erste Messe zelebrierte. Damals wurde die kleine Siedlung deutscher Auswanderer nach einer alten indianischen Bezeichnung Okaw genannt. Ostlangenberg, der aus der gleichnamigen Bauerschaft im Kirchspiel Langenberg bei Wiedenbrück stammte, veranlasste den Bau der ersten kleine Blockhaus-Kirche. Die wurde 1839 eingeweiht. Ostlangenberg hielt sich im Laufe der folgenden Jahre immer wieder für kurze oder längere Zeit in Okaw auf. Er widmete die kleine Kirche dem Patron seiner deutschen Heimatdiözese, dem heiligen Liborius. In Paderborn hatte er vor seiner Auswanderung (1833) mit dem Theologiestudium begonnen. 1850 folgte der Bau der ersten Kirche aus Backstein.  Der erste seit 1849 ständig hier ansässige Priester hieß August Brickwedde. Er stammte aus Fürstenau in der Diözese Osnabrück.

Die Blockhauskirche von Okaw, dem späteren Mudcreek und St. Libory, von 1839. Reproduktion: Stüken

Der Siedlungsname Okaw verschwand. Der Ort nannte sich ab 1850  nach der Poststation Mudcreek (= Schlammbach). Die lag, wie Dr. Heinz Marxkors, ein großer Kenner von St. Libory im DAFK, erläutert, an dem „sehr träge fließenden, sumpfigen Bach, der den Ort durchquert“. Auch die Backsteinkirche wurde bald wieder zu klein. Binnen einer Woche spendeten 100 Familien mehr als 30 000 Dollar für den Bau der heutigen Kirche. Ihr  Grundstein wurde 1882 gelegt. 1883 wurde sie geweiht.

Der Ort Mudcreek wurde 1874 auf Drängen des Pfarrers Frederick Chemlicek nach dem Kirchenpatron in St. Libory umbenannt. Das tradionelle „Schlambachfest“ wird in St. Libory bis heute gefeiert, ebenso der jährliche „Wurstmarkt“.

1988 beging die Pfarrei von St. Libory ihr 150-jähriges Bestehen. Der Festgottesdienst wurde an jenem Tisch gefeiert, an dem Präriepfarrer Ostlangenberg 1838 die Gläubigen zum ersten Gottesdienst versammelt hatte. Mehrere Gäste aus Paderborn waren dabei und staunten, dass manche Nachfahren deutscher Einwanderer noch gut die von Eltern und Großeltern erlernte plattdeutsche Sprache beherrschten.

Father Paul Wienhoff Pfarrer von St. Liborius in St. Libory, zeigt die Tischplatte aus dem Farmhaus, die 1838 beim ersten Gottesdienst als Altar diente. Foto: Stüken

Ein Jahr später, 1989, im Vorfeld der Städtepartnerschaft Paderborn-Belleville, besuchte der damalige Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt (1926-2002) mit seinem Generalvikar Bruno Kresing (1929-2020)  St. Libory und feierte dort eine Messe. Degenhardt verwies auf  die lange Freundschaft zwischen der Liborius-Heimat Le Mans und Paderborn. Ein ähnlicher Freundschaftsbund sei mit diesem Besuch zwischen St. Libory und Paderborn geknüpft, hielt der Geschichtsschreiber der Liborius-Gemeinde fest und wertete den Degenhardt-Besuch als Zeichen der Einheit zwischen der „Mutterkirche“ von St. Liborius in Paderborn und deren „Schwesterkirche“ in Illinois. Degenhardt, der mit seinem Generalvikar während der gemeinsamen Amtszeit (1974-2002) häufig in Sachen Liborius in der Welt unterwegs war, wurde 1998 zum Ehrenmitglied des Deutsch-Amerikanischen Freundeskreises ernannt.

Gedenkmedaille an das 175-jährige Jubiläum 2013. Foto: Stüken

2013 beging die Liborius-Pfarrei in St. Libory unter dem Motto „Rooted in Faith“ (Verwurzelt im Glauben) ihr 175-jähriges Bestehen. Dr. Heinz Marxkors hatte schon 1998 nachgewiesen,  dass nicht weniger als 76 von ihm namentlich ermittelte Auswanderer aus den Altkreisen Büren und Paderborn in Okaw, Mudcreek oder St. Libory ansässig geworden sind. Nicht alle blieben.

Bitte an St. Liborius, für die Bewohner von St. Libory, Illinois, zu beten. Zu lesen am Kircheneingang.
Foto: Stüken

Mehr als drei Jahrzehnte nach Gründung der Pfarrei brach 1876 von St. Libory aus eine kleine Gruppe deutschstämmiger Siedler auf, um weiter nordwestwärts zu ziehen. Sie erwarben Land in Nebraska und gründeten eine Kolonie in der Nähe Union Pacific Railroad, deren große Transkontinentalverbindung von Chicago Richtung Westküste gute und schnelle Absatzwege für Farmprodukte versprach. Sie gaben ihrer Kolonie den Namen ihres Herkunftsortes St. Libory, errichteten eine Holzkirche und feierten darin 1878 den ersten Gottesdienst. 1954 wurde in St. Libory, Nebraska, eine neue, größere Liboriuskirche eingeweiht und zugleich mit einem Jahr Verspätung das 75-jährige Jubiläum der Pfarrei gefeiert. 

Eine weitere Liboriuskirche steht in Illinois, und zwar in Steger (Diözese Joliet in der Nähe von Chicago). Am Aufbau dieser Pfarrei, die 2002 ihr 100-jähriges Bestehen beging, hatte der aus Salzkotten stammende Pfarrer Joseph Rempe  (1859-1948, Auswanderung 1883) maßgeblichen Anteil.

Amerika-Auswanderer aus der Diözese Paderborn waren es auch, die den Impuls zur Gründung der St.-Liborius-Pfarrei im einsam gelegenen Polo in South Dakota gaben. Dort wurde 1884 in einem Farmhaus die erste Messe gefeiert, eine erste kleine Holzkirche wurde 1904 errichtet. 1923 folgte eine größere. 1918 erkannte die Diözese Sioux Falls  St. Liborius Polo als eigenständige Pfarrei an und übertrug die Seelsorge dem Orden „Missionary Oblates of Mary Immaculate“ (OMI, in Deutschland auch als Hünfelder Oblaten bekannt). Ein Ordenshaus der Oblaten, aus dem bis 1979 eine ganze Reihe von Seelsorgern nach Polo entsandt wurden, stand in Paderborns heutiger US-Partnerstadt Belleville.

Sollte das Erzbistum Paderborn künftig einmal an eine Neuauflage seiner 2020er Liborius-Weltkarte denken, wäre für Nordamerika ein Verzicht auf „Schwarzmalerei“ zu empfehlen. Wolfgang Stüken

St. Liborius als Bischof. Das zweite dem Heiligen und KIrchenpatron gewidmete Kirchenfenster in St. Libory, Illinois. Foto: Stüken