175 Jahre Belleville Public Library 200. Geburtstag von Friedrich Hecker
Es war im Jahr nach dem berühmten Hambacher Freiheitsfest des Jahres 1832 und eine Folge des Frankfurter Wachensturms von 1833.
Der sollte den Weg zu einer deutschen Republik ebnen, scheiterte aber kläglich: Eine Reihe Bürger, an deutschen Universitäten in akademischen Berufen gebildet, aber der Unterdrückungen und Repressalien in den Fürstentümern des Deutschen Bundes restlos überdrüssig, suchte jenseits des Atlantiks eine neue Heimat. Auch politische Flüchtlinge waren darunter. Es verschlug sie in den Süden des US-Bundesstaates Illinois.
Eigentlich hätte ihnen das rasch wachsende St. Louis auch beruflich eine Menge Perspektiven bieten können. Aber St. Louis lag in Missouri, und dort war die Sklaverei erlaubt. Das schreckte die Freiheit suchenden, vor allem aus Hessen und der Pfalz stammenden Einwanderer ab. Auf der anderen Seite des Mississippi, in der Nähe des Städtchens Belleville im sklavenfreien Illinois, fanden sie im Shiloh Valley fruchtbares Farmland. Dort bauten sie zunächst einfache Blockhütten und versuchten, in der neuen Heimat einem für sie völlig fremden Beruf als Landwirte eine neue Existenz aufzubauen. Und da sie gebildete, kulturell stark interessierte Menschen waren, hießen sie in der ganzen Gegend bald „Die Lateiner“ oder „Latin Farmer“.
Die meisten Blockhütten wichen schon wenige Jahre später gemütlicheren und größeren Farmhäusern. Andere der deutschen Einwanderer im Shiloh Valley, die über Vermögen verfügten, erwarben bald nach ihrer Ankunft betriebsbereite Farmen, die von amerikanischen Vorbesitzern errichtet worden waren. Nicht alle „Lateiner“ wurden erfolgreiche Bauern. Insgesamt aber wurde das Tal von Shiloh ein blühendes Fleckchen Erde.
Häufig trafen sich die „Latin Farmer“ mit ihren Familien sonntags zu gemütlichen Picknicks, um Lieder aus der alten Heimat zu singen, um literarischen Lesungen zu lauschen oder über Bücher zu plaudern, die sie aus Deutschland mitgebracht hatten oder die gerade die in der neuen Heimat USA als Neuerscheinungen im Gespräch waren. Und natürlich liebten sie es, politische Themen der alten und neuen Welt zu debattieren.
An so einem Sonntag, dem 26. Juni 1836, war die Farm von Anton Schott der Treffpunkt. Der aus Frankfurt am Main stammende Gastgeber, ein sehr belesener Doktor der Theologie und Philosophie, verwies auf das gerade in den USA erscheinende mehrbändige Werk „Life and writings of George Washington“, herausgegeben von dem Historiker Jared Sparks (1789-1866). Für einen einzelnen Leser sei dieses für die Geschichte der USA wertvolle Werk eine sehr teure Anschaffung, befand Schott und regte an, die zwölf Bände, die zwischen 1834 und 1837 auf den Markt kamen, in einer Gemeinschaftsaktion zu erwerben und sie allen, die sich an der Anschaffung beteiligten, zugänglich zu machen. Damit war die Idee einer Bibliotheksgesellschaft geboren.
Schott ermunterte andere „Lateiner“ aus Shiloh Valley, von denen er wusste, dass sie wie er selbst zahlreiche Bücher in die USA mitgebracht hatten, dabei zu sein. Die Bücher könnten den Grundstock einer Bibliothek bilden, schlug er vor. Beim Sonntags-Treffen am 17. Juli wurde im Schott’schen Farmhaus die Gründung perfekt gemacht. 16 „Lateiner“ hoben die Deutsche Bibliotheksgesellschaft von St. Clair County aus der Taufe.
Unter den Gründungsmitgliedern befand sich der Jurist Gustav Körner (1809-1896), der wie Schott aus Frankfurt stammte. Nach dem gescheiterten Wachensturm in der Stadt am Main war Körner in die USA geflohen und unter den lateinischen Bauern ansässig geworden – allerdings nicht als Landwirt. Der Jurist Körner entschied sich zu einem Zusatzstudium in amerikanischem Recht und ließ sich als Anwalt in Belleville nieder. Körner und zwei weitere „Lateiner“ wurden von der Gründungsversammlung beauftragt, für die Bibliotheksgesellschaft eine Satzung zu entwerfen. Beim Treffen am 18. August 1836 wurde sie verabschiedet. Anton Schott wurde zum Bibliothekar gewählt. Körner bezeichnet ihn in seinen Memoiren als „Seele dieser Unternehmung“. Schott bot sein Farmhaus als Standort der kleinen, aber wachsenden Prärie-Bibliothek an. Aufgrund von Schenkungen der Gründungsmitglieder konnte die junge Bibliothek nach nur vier Wochen einen Bestand von 93 Bänden vorweisen. Am Ende des ersten Jahres waren es bereits 346. Die meisten Bücher waren deutschsprachig. Aber auch Werke in französischer, lateinischer, spanischer und hebräischer Sprache befanden sich darunter.
Jeder der 16 Gründer zahlte einen ersten Jahresbeitrag von drei Dollar in die Kasse der Bibliothek. Bald schrieben sich weitere Mitglieder ein, unter ihnen mit Charlotte Frays die erste Frau. Und ein Westfale, dessen Wurzeln mit hoher Wahrscheinlichkeit im Raum Paderborn zu orten sind, war auch darunter: Hermann von Haxthausen. Der an einer Universität gebildete Freiherr, der vermutlich der so genannten „schwarzen Linie“ derer von Haxthausen entstammt, deren Geschichte eng mit Dedinghausen im heutigen Bad Lippspringe verknüpft, aber wegen erheblicher Archivverluste weitgehend unerforscht ist, war Anfang der 1830er Jahre mit seinem Bruder Heinrich in die USA emigriert und unter den „lateinischen Bauern“ von Shiloh Valley ansässig geworden. Auch Hermann von Haxthausen besiegelte mit dem ersten Jahresbeitrag von drei Dollar den Beitritt zur Bibliotheksgesellschaft. Die Informationen über die beiden in die Vereinigten Staaten emigrierten Haxthausen-Brüder sind bislang spärlich. Es gibt Hinweise, dass der als Farmer eher glücklose Hermann von Haxthausen später nach Deutschland – in den Raum Paderborn – zurückgekehrt ist, um das Erbe eines verstorbenen Verwandten anzutreten. Hermann von Haxthausens Beitritt zur Bibliotheks-Gesellschaft des Kreises St. Clair dürfte ein Hinweis auf die früheste Verbindung zwischen den beiden heutigen Partnerstädten sein, die bislang bekannt ist.
Als am 18. September 2011 (wieder ein Sonntag!) die Stadtbibliothek in Belleville mit einer Feierstunde und einer Ausstellung in den Räumen ihrer Hauptstelle an der West Washington Street 121 ihr 175jähriges Bestehen feierte, zählte Bürgermeister Mark W. Eckert zu den ersten Gratulanten. In der Ausstellung waren die gut erhaltene Erstanschaffung der Bibliotheksgesellschaft von 1836, „Life and writings of George Washington“, und Protokolle aus der Gründungszeit der Vereinigung zu sehen. Schüler aus Deutsch-Kursen der beiden Belleviller Highschools East und West rezitierten aus Werken deutscher Dichter wie Goethe und Schiller, die zu der so genannten „Founders Collection“, also dem aus der Gründungszeit stammenden ältesten Bestand der Belleviller Stadtbibliothek, stammen. Zu hören waren unter anderem Verse aus Goethes „Erlkönig“ und Schillers „Mädchen aus der Fremde“. Vorbereitet hatten diese besondere Lesung die beiden als Betreuer im Schüler- und Jugendaustausch in Paderborn gut bekannten Pädagogen Andy Gaa und Katie McDowell.
In späteren Jahren hatte die Bibliotheksgesellschaft unter anderem auch Werke der westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff angeschafft. Und auch Karl May fehlte nicht.
Ein Fan der Belleville Public Library schrieb nach der Feier begeistert in einem Internet-Blog der Belleviller Zeitung News Democrat über die 175-jährige Bibliothek: „Wir sind so glücklich, ein solches Juwel in unserer Stadt zu haben.“ Die „Founders Collection“ umfasst mit rund 3.400 Büchern einen stattlichen Bestand. Jedes Exemplar dieses Bücherschatzes wird ein einer säurefreien Box aufbewahrt.
Glückwünsche zum 175. Geburtstag der Belleville Public Library kamen auch aus Paderborn. Bürgermeister Heinz Paus, der vom Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis (DAFK) einen Hinweis auf diesen Jahrestag erhalten hatte, gratulierte in einem Schreiben an seinen Belleviller Amtskollegen Mark Eckert zu diesem „tollen Jubiläum“. Er sei immer wieder erstaunt, wie viele Bezüge zu Deutschland sich in Belleville finden lassen, schrieb er angesichts der von deutschen Auswanderern gegründeten Bibliothek. Paus regte aus Anlass des Jubiläums „eine konkrete Zusammenarbeit“ zwischen den beiden Stadtbibliotheken von Belleville und Paderborn, zum Beispiel im Rahmen eines Ausstellungsprojektes, an. Als Geschenk für die Belleviller Stadtbibliothek schickte er ein Paket mit mehreren Exemplaren der Chronik „Paderborn – Im Spiegel der Zeit“ (2010) und der erst wenige Wochen zuvor erschienenen englischsprachigen Version (Paderborn – Through the Ages“ (2011) in die Partnerstadt jenseits des Atlantiks. Weitere Paderborn-Bücher, in denen sich demnächst interessierte Belleviller Bürger über die deutsche Partnerstadt und ihre Geschichte informieren können, werden folgen, unter anderem über Mitglieder des DAFK. Als Paderborns Stadtarchivar Rolf-Dietrich Müller von dieser Spende erfuhr, stellte er spontan eine Ausgabe der dreibändigen Stadtgeschichte von 1999 für die Belleviller Bücherei zur Verfügung.
Eines der Buchpräsente zum Bibliotheksjubiläum aus Paderborn:
Wolfgang Stüken vom Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis (l.) überreichte am 17. November 2011 bei einem Besuch in Belleville den ersten Band der dreibändigen, von Stadtarchivar Rolf-Dietrich Müller zur Verfügung gestellten Paderborner Stadtgeschichte von 1999. Bibliothekschef Leander Spearman (Mitte) will in den Regalen seiner Bibliothek eine kleine Paderborn-Abteilung einrichten, in der sich Belleviller Bürger ausgiebig über die deutsche Partnerstadt informieren können. Bellevilles Bürgermeister Mark Eckert (r.) wird dazu jene deutsch- und englischsprachigen Paderborn-Bücher beisteuern, die ihm sein Amtskollege Heinz Paus zum Bibliotheks-Geburtstag übersandt hat. Spearman und Eckert bekundeten ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek Paderborn – denkbar sind beispielsweise gemeinsame Ausstellungsprojekte.
Foto: Renate Stüken
Als Heinz Paus im Vorfeld des Belleviller Jubiläums mit Vorstandsmitgliedern des DAFK und der stellvertretenden Leiterin der Paderborner Stadtbibliothek, Frederike Sommer-Hennige, über die Buchgeschenke für Belleville sprach, staunten seine Gesprächspartner: War Heinz Paus doch der Begriff der „Lateinischen Bauern“ aus seiner Jugend durchaus vertraut. Im westlichen Münsterland sei, wenn Brüder eines Landwirts, die ihrerseits einen akademischen Beruf erlernt oder ein Hochschulstudium begonnen hätten, aber nach dem Tod des Bauern, etwa im Krieg, plötzlich den heimischen Hof hätten übernehmen müssen, seien diese „Latinske Buern“ genannt worden, berichtete Paus.
Die „Lateinischen Bauern“ von Shiloh Valley im südlichen Illinois hüteten ihre im Schott’schen Farmhaus untergebrachte Bibliothek bis 1853. Dann erfolgte der Umzug mit einem Bestand von 1.903 Büchern, Landkarten und anderen Schriften in ein Gebäude der Kreisstadt Belleville, das später „Old Fellow Hall“ genannt wurde. 1860 fusionierte die Bibliothek mit der – stark von Musikliteratur geprägten – Bücherei des Belleviller Sängerbundes. Es erfolgte ein Ortswechsel in ein zentraler gelegenes Domizil an der Ecke Main Street/First Streets.
Im Jahre 1883 wechselte die Bibliothek als Geschenk der Bibliotheksgesellschaft in das Eigentum der Stadt Belleville – mit der Maßgabe, sie als öffentliche Bücherei allen Bürgern zugänglich zu machen. Die Stadt quartierte ihre neue, weiter wachsende Kultureinrichtung – etwa 75 Prozent der 6.000 Bände waren deutschsprachig – im Abstand mehrerer Jahre in zwei Feuerwachen um. Ein deutscher Auswanderer, Henry Raab (1837-1901, stammte aus Wetzlar, 1854 ausgewandert), der sich große Verdienste um den Bildungssektor in Belleville und darüber hinaus erwarb, öffnete als erster Bibliothekar die Ausleihe 1884 sonntags eine Stunde lang für Kinder. Frauen konnten sich ab 1873 als Nutzer einschreiben.
1893 konnte die Bibliothek in neue, größere Räume in zwei Etagen der neu erbauten Stadtverwaltung umziehen. Auch dort wurde es nach einigen Jahren zu eng. 1916 wurde mit Geldern der Carnegie-Stiftung das heutige Bibliotheksgebäude errichtet werden. 1925 wurde eine Zweigstelle in einem Drugstore der Weststadt eröffnet – heute ist in diesen Räumen das Blumengeschäft von Mark Eckerts Ehefrau Rita zu finden. Das Hauptgebäude der Bibliothek wurde 1975 erweitert, eine neue Zweigstelle 1989 eröffnet. Zwischendurch, in den 1970er und frühen 1980er Jahren, sammelte die Stadtbibliothek Erfahrungen mit einem Bücherbus. Der erste Computer für Nutzer der Bibliothek hielt 1988 Einzug.
Aber auch im Computerzeitalter ist es schwer, nachzuweisen, ob die Belleviller Stadtbibliothek tatsächlich die älteste Bibliothek von ganz Illinois ist. Bella Steuernagel, langjährige Belleviller Bibliothekarin und Bibliothekschefin von 1918 bis 1959, behauptete dies in einem historischen Rückblick, den sie zum 100-jährigen Jubiläum im Jahre 1936 veröffentlichte. Ganz sicher ist die Belleville Public Library eine der ältesten Bibliotheken des Bundesstaates Illinois. Ist sie doch drei Jahre älter als die 1839 gegründete Staatsbibliothek in Springfield.
Die ersten Jahrzehnte der Bibliotheksgeschichte im 19. Jahrhundert sind neben dem Namen Anton Schott eng mit dem Namen Gustav Körner verbunden. Obwohl er von Belleville aus Karriere in der Politik des Staates Illinois machte (Vize-Gouverneur), zu den Gründern der Republikanischen Partei und zu den großen Unterstützern des Präsidentschaftskandidaten Abraham Lincoln zählte, nahm sich Körner, als Sohn eines Frankfurter Verlegers gewissermaßen von Geburt an mit dem Büchervirus infiziert, trotz vieler politischer Verpflichtungen stets Zeit für die von ihm 1836 mit gegründete Bibliothek. Als sie 1883 den Status einer öffentlichen Bücherei erlangte, ernannte Bürgermeister Benjamin J. West jr. Gustav Körner zum Mitglied ihres ersten Kuratoriums. Er und Theodor J. Krafft (1813-1896, aus Alsenborn in der Rheinpfalz, 1832 ausgewandert, 1850 Bellevilles erster Bürgermeister nach Erhalt der Stadtrechte) waren die einzigen noch lebenden Grünungsmitglieder der Bibliotheksgesellschaft. Das Kuratorium wählte Gustav Körner zum Präsidenten. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tod im Jahre 1896 aus. Mit Stolz habe er sich über die lange Zeit seit ihrer Gründung für diese Einrichtung und ihre erfolgreiche Entwicklung eingesetzt, hielt Körner in seinen Memoiren fest, die er in seinen letzten Lebensjahren verfasste.
Die Gemeinde Angelbachtal, in der sein Geburtsort Echtersheim liegt, widmete ihrem berühmten Sohn Friedrich Hecker zum 200. Geburtstag ein Jubiläumsjahr mit zahlreichen Veranstaltungen: www.heckerjahr2011.de
Gustav Körner ist auch das Bindeglied zum zweiten bemerkenswerten Jahrestag im September 2011, der mit Belleville, Illinois, zu tun hat. Der Blick geht zurück in das Jahr 1832. Nachts in einer Gasse in Heidelberg. Der von einem Kneipenbesuch heimkehrende Jurastudent Gustav Körner geriet in eine Streiterei mit einer Gruppe von Studenten.
Als er versuchte, die Streithähne zur Vernunft zu bringen, nannte ihn einer der Kontrahenten einen „Blödmann“. Da war für Körner das Maß voll. Er forderte Genugtuung für diese Provokation – und seinen Gegenüber, den er nie zuvor gesehen hatte, zum Duell heraus. „Hecker ist mein Name“, sagte dieser. „Mein Name ist Körner“, gab der Herausforderer zurück. Ein paar Tage später trafen sich die beiden im legendären Studentenlokal Hirschgasse der Stadt am Neckar, um die Sache auszufechten. Ein Fechthieb Körners, der seinen Gegner zwischen Daumen und Zeigefinger einer Hand traf, sorgte bei Hecker für ziemlich schmerzhafte Erinnerungen an diese Begegnung.
16 Jahre später. An einem Oktoberabend des Jahres 1848 klopfte es in Belleville an der Haustür Gustav Körners: Draußen stand der ehemalige Heidelberger Duellgegner. Körner, der Frankfurter Revolutionär des deutschen Vormärz, der längst dabei war, in der Landespolitik von Illinois Karriere zu machen. Er wurde von dem ebenfalls in die USA geflüchteten badischen Revolutionär Friedrich Hecker herzlich als Duzfreund umarmt. Hecker bat Körner, ihm in der Belleviller Gegend bei der Suche nach einer Farm behilflich zu sein, denn er wolle sich hier niederlassen. Körner machte sich mit Hecker, der sich zunächst in einem Belleviller Hotel einquartierte, auf die Suche. Nach einiger Zeit wurden sie fündig. Eine Farm, die in Summerfield in der Nähe von Bellevilles Nachbargemeinde Lebanon im Kreis St. Clair zum Verkauf stand, wurde Heckers Wohnsitz in den USA. Das Farmhaus, das Hecker von der Familie Pattfield erworben hatte, wurde in den 1850er Jahren, vermutlich 1856, durch ein Feuer zerstört. Hecker ersetzte das Holzhaus durch einen aus Ziegelsteinen gemauerten Neubau . Dieser wurde mit der Farm, die sich für einen wirtschaftlichen Betrieb als mittlerweile zu klein erwies, Mitte der 1950er Jahre verkauft und später abgerissen.
Während Gustav Körners 200. Geburtstag im Jahre 2009 in seiner deutschen Heimatstadt Frankfurt am Main kaum beachtet, hingegen in Belleville mit einer großen Feier begangen wurde, verhält es sich bei Friedrich Hecker umgekehrt: Im Festkalender des Kreises St. Clair oder von Belleville und Lebanon spielte Heckers 200. Geburtstag am 28. September 2011 keine Rolle – seine badische Heimat Angelbachtal im Kraichgau (Rhein-Neckar-Kreis), in deren heutigem Ortsteil Eichtersheim er geboren wurde, rief anlässlich des 200. Geburtstages ein ganzes Hecker-Jahr aus und widmete ihm eine große Ausstellung, Vorträge und Festveranstaltungen. Im Badischen wird Hecker-Wein kredenzt, und das populärste Symbol dieses Revolutionärs, der Hecker-Hut, erlebte als Souvenir im Jahr des 200. Hecker-Geburtstages neue Beliebtheit. Der „badische Che Guevara“ (Südkurier, Konstanz) kam sogar als Titelheld auf die Theaterbühne: Im Kurhaus der Schwarzwaldstadt Triberg wurde mit 100 Mitwirkenden „Hecker – das Musical der badischen Revolution“ inszeniert. Die 13 Aufführungen lockten mehr als 5000 Zuschauer. Nicht nur sie waren begeistert. Der Südwestrundfunk (SWR) lobte: „Heimatgeschichte ideenreich und witzig erzählt.“ Einen der Schlussakzente des Hecker-Jahres setzt das Badische Landesmuseum: „Friedrich Hecker – Leben und Mythos eines Revolutionärs 1811-1881“ lautet der Titel einer kleinen Ausstellung im Foyer des Karlsruher Schlosses (28. September 2011 bis 8. Januar 2012).
Der am 28. September 1811 in Eichtersheim geborene Jurist wurde 1842 als junges Mitglied der Liberalen Oppositionspartei in die zweite Kammer des badischen Landtags gewählt. Bald wurde er als Mann mit großem Radetalent, aber auch als Vertreter radikaler Ansichten bekannt. Als Hecker im Revolutionsjahr 1848 mit seinen Forderungen nach politischer Umwälzung im Parlament scheiterte, brach er mit einer Gruppe radikaler Republikaner zum „Heckerzug“ auf, um mit Gewalt eine republikanische Staatsform durchzusetzen. Doch seine hoffnungslos unterlegene Freischar wurde bei Kandern vernichtend geschlagen. Auch Heckers Hoffnungen auf eine allgemeine Volkserhebung zerplatzten. Er flüchtete in die Schweiz. Von dort emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er begeistert empfangen wurde. Er trat um die Jahreswende 1948/1849 als Redner in mehreren Versammlungen deutschstämmiger Auswanderer auf, unter anderem in St. Louis (Missouri) und Belleville (Illinois). Diese Treffen sollten den revolutionären Bestrebungen in Deutschland Rückenwind geben. In den USA unterstützte Hecker später – wie Körner – die Gründung der Republikanischen Partei und die Präsidentschaftskandidatur von Abraham Lincoln. Während des amerikanischen Bürgerkriegers kommandierte Hecker mehrere Freiwilligen-Regimenter. Das nach ihm benannte Hecker-Regiment zog für die Nordstaaten in große Schlachten. Hecker wurde verwundet und zog sich Ende 1863 auf seine Farm im Kreis St. Clair zurück.
In Summerfield verfasste der Farmer Friedrich Hecker nicht nur politische Bücher, Reden und Zeitungsartikel. Als Weinbauer entwickelte der badische Revolutionär in der Prärie von Illinois eine neue Leidenschaft. Der begeisterte Winzer stand in enger Verbindung mit den Weinbauern unter seinen lateinischen Nachbar-Farmern von Shiloh Valley. Und er pflegte über Jahre eine enge briefliche Freundschaft mit dem Weinbauexperten und -forscher Professor Dr. Adolph Blankenhorn (1843-1906) in Deutschland, dem späteren Präsidenten des Badischen Weinbauinstituts in Freiburg. Der Briefwechsel Hecker-Blankenhorn ist in einem Buch dokumentiert. Kenner der Geschichte des deutschen Weinbaus im 19. Jahrhundert erinnern daran, dass damals in Westeuropa die Reblaus ganze Weinbergslagen vernichtete. Friedrich Hecker leistete durch die Lieferung von Rebsamen und amerikanischer Hybridreben aus dem Kreis St. Clair, die reblausresistent waren, einen wichtigen Beitrag, um den Weinbau in seiner deutschen Heimat zu erhalten. Das Badische Weinbauinstitut in Freiburg hat in Würdigung dieser Verdienste eine Weinsorte nach ihm benannt. Die länglich-großen, grüngelben Beeren der Heckerrebe, deren Wuchs der Gutedel-Rebe ähnelt, zeichnen sich durch ein fein-süßes, leichtes Bukett aus.
Als Hecker am 24. März 1881 auf seiner Farm starb, wurde Summerfield vier Tage später Schauplatz einer der größten Beerdigungen, die der Kreis St. Clair je erlebt hat – mit weit über 1.000 Teilnehmern. Die letzte der zahlreichen Grabreden hielt Gustav Körner aus Belleville. Er und Friedrich Hecker hätten stets dieselben Ziele verfolgt, oft allerdings auf verschiedenen Wegen, sagte Ex-Gouverneur Körner. Es gebe in den USA nur wenige Staatsmänner, die immer so ehrlich ihre Ansichten verteidigt und dabei ihre Unabhängigkeit bewahrt hätten wie dieser Friedrich Hecker. Heuchelei und Lüge habe Hecker bitter bekämpft, stets sei er offen und ehrlich gewesen und seinen Feinden immer mit offenem Visier gegenüber getreten, sagte Körner.
Seine Farm vererbte Friedrich Hecker seinem Sohn Arthur. Ein Wunsch, den er seinem schriftlich verfassten Testament aus dem Jahre 1874 anvertraut hatte, blieb allerdings unerfüllt. Nach seinem Tode, so hatte er verfügt, solle sein Körper geöffnet und das Herz herausgenommen werden. Einbalsamiert solle es in einem Metallbehälter in die deutsche Heimat geschickt und von Freunden und Verwandten auf der Familiengruft der Heckers in Mannheim bestattet werden. Möglicherweise hat er diesen Teil seines letzten Willens kurz vor seinem Tod mündlich widerrufen. Heckers Herz blieb in seiner zweiten Heimat Illinois.
Ein kleiner Ort in Süden von Illinois, 1849 als „Freedom“ gegründet, benannte sich 1895 in Erinnerung an den berühmten Einwanderer in „Hecker“ um. Das Dorf im Monroe County zählt knapp 500 Einwohner und liegt ganz in der Nähe von St. Libory (St. Clair County) und Paderborn (Stadtbezirk von Waterloo, Monroe County). In Paderborns Partnerstadt Belleville erinnert die „Hecker-Street“ an den badischen Revolutionär und berühmten deutschen Auswanderer.
In einer zum 200. Geburtstag erschienenen neuen Hecker-Biografie würdigt Kurt Hochstuhl (Freiburg) diesen deutschen Auswanderer als „Inbegriff der demokratischen Revolution“. Die Gemeinde Angelbachtal verehrt Hecker als „unangefochtenen Volkshelden der badischen Demokratiebewegung 1848/49“, der „mit seinen Forderungen nach demokratischen Bürgerrechten seiner Zeit voraus war“.
An den einstigen „Volkhelden“ erinnert das „Heckerlied“, von dem zahlreiche Strophen existieren. Es soll auf ein Lied zurückgehen, das
nach einer Gefangenenbefreiung in der Folgezeit des Frankfurter Wachensturms die Runde machte und später auf Hecker umgedichtet wurde. Hier die vermutlich bekannteste Fassung der ersten Strophe und des Refrains:
„Wenn die Leute fragen,
Lebt der Hecker noch?
Könnt ihr ihnen sagen:
Ja, er lebet noch.
Er hängt an keinem Baume,
Er hängt an keinem Strick.
Er hängt nur an dem Traume
Der deutschen Republik.“