Von Wolfgang Stüken
Es ist eine alte Paderborner Legende: Als im Jahre 836 die Gebeine des heiligen Liborius aus dem westfranzösischen Le Mans nach Paderborn überführt werden, fliegt der bischöflichen Abordnung ein Pfau voran. Als die Delegation mit den Reliquien des Patrons für die noch junge Diözese nach vier Wochen ihr Ziel, den kurz zuvor errichteten Paderborner Dom, erreicht, stürzt der stolze Vogel tot zu Boden. Diese Legende, die im 17. Jahrhundert erstmals auch als schriftliche Überlieferung auftaucht, lässt den Pfau zu einem unsterblichen Symbol der Liborius-Verehrung werden.
Den vielen westfälischen Auswanderern, die im 19. Jahrhundert per Schiff nach Amerika aufbrechen, fliegt kein Pfau voran. Aber diese Menschen, vor allem, wenn sie aus dem Bistum Paderborn stammen, nehmen die Liborius-Verehrung und auch die Pfauen-Legende mit über den Atlantik.
Die Stadt St. Louis am Mississippi im US-Bundesstaat Missouri wird im 19. Jahrhundert zu einem zentralen Punkt des Auswandererstroms, der sich Ziele im heutigen Mittleren Westen sucht und auch jener Pioniere, die es noch weiter nach Westen zieht. Viele Auswanderer machen diese Stadt selbst, das „Tor zum Westen“, zu ihrer neuen Heimat. St. Louis wächst rasch. Vor allem die Nordstadt entwickelt sich zu einer bevorzugten Adresse westfälischer Auswanderer. Ein Viertel dort wird bald „Klein-Paderborn“ genannt. Eine Kneipe an der North Market Street bekommt für Jahrzehnte den Namen „The Paderborn Saloon“.
Die hier lebenden Katholiken gehören entweder zur Pfarrei St. Josef, deren Kirche 1846 eingeweiht wird, oder zur zwei Jahre später gegründeten (und von St. Joseph abgezweigten) Dreifaltigkeits-Gemeinde. St. Louis wächst in rasantem Tempo weiter. Im Bezirk von „Klein Paderborn“, der zwischen den Kirchen St. Joseph und Dreifaltigkeit liegt, leben bald so viele katholische Einwanderer, dass der Ruf nach einer eigenen Kirche laut wird.
Der Generalvikar von St. Louis, Joseph Melcher, reist 1855 in die Heimat vieler Auswanderer nach Deutschland, um dort junge Theologen als künftige Seelsorger für die USA anzuwerben. Er hat Erfolg. Sieben sagen zu. Einer von ihnen ist bereits Priester: Der aus dem heutigen Delbrücker Stadtteil Westenholz stammende Stephan Schweihoff (1820-1869, Priesterweihe 1847, vor der Auswanderung Kaplan im Wallfahrtsort Verne bei Salzkotten).
Als Schweihoff am 5. Oktober 1855 in New York amerikanischen Boden betritt, weiß er noch nicht, welche Aufgabe sein neuer Dienstherr, Erzbischof Peter Richard Kenrick von St. Louis, ihm übertragen wird. Kenrick wird in diesen Wochen in dringenden Petitionen aus „Klein-Paderborn“ ersucht, der Gründung einer neuen Pfarrei zuzustimmen. Ein auch den Bischof überzeugendes Papier aus diesem Viertel der Nordstadt wird Ende Oktober nachgereicht. Liborius Müsenfechter ist der Name des Auswanderers, der am 30. Oktober 1855 per Schenkungsurkunde ein Grundstück zwischen der 18. Straße und der Hogan-Straße für den Bau einer Kirche zur Verfügung stellt. Erzbischof Kenrick willigt ein. Zum ersten Pfarrer der aus 40 Familien bestehenden neuen Gemeinde ernennt er den Neuankömmling Stephan Schweihoff.
Und wie soll die neue Gemeinde heißen? Ist es Schweihoff, der den Patron seines Heimatbistums vorschlägt, oder kommt der Wunsch nach einer Liborius-Kirche von den Bewohnern Klein-Paderborns? Oder ist der Vorschlag St. Liborius in erster Linie ein Dankeschön an den Spender des Kirchengrundstücks, Liborius Müsenfechter, zumal er auch sein Haus für die ersten Versammlungen zur Gemeindegründung zur Verfügung stellt? St. Liborius scheint als Ergebnis der Namenssuche für die neue Gemeinde der ganz große gemeinsame Nenner zu sein.
Im Frühjahr 1856 beginnt der Kirchbau. Im Januar 1857 kann der erste Gottesdienst in der neuen, aus Bruch- und Backsteinen im romanischen Stil erbauten Kirche gefeiert werden. Um den Kirchbau möglich zu machen, haben manche Gemeindemitglieder, darunter Tagelöhner aus Sägemühlen und Ziegelbrennereien, buchstäblich den letzten Cent gegeben, den sie erübrigen konnten. Die meisten Gemeindemitglieder sind arme Leute. Geradezu spartanisch einfach ist das kombinierte Wohn-, Schlaf und Studierzimmer von Liborius-Pfarrer Stephan Schweihoff im Obergeschoss des Sakristei-Anbaus.
Das Läuten „der Glocke von Paderborn“ im weithin sichtbaren Turm von St. Liborius ist hinüber bis auf die andere Seite des Mississippi zu hören.
Schweihoffs Wunsch, eine Pfarrschule zu eröffnen, geht zunächst nicht in Erfüllung. 13 Eltern, die ihre Kinder anmelden, sind zu wenig, um einen Lehrer bezahlen zu können. Wenige Monate später, im Herbst 1857, gelingt ein neuer Anlauf. Die St. Liborius-Schule nimmt mit Lehrer Theodor Lemkes (der später nach St. Libory, Illinois, wechselt) und 16 Schülern in einem angemieteten Haus nahe der Kirche ihren Betrieb auf. 1859 wird das erste eigene Schulhaus gebaut.
Auch die Ausgestaltung des Innenraumes der Liborius-Kirche macht Fortschritte. Seitenaltäre werden gebaut, und ein Gemeindemitglied stiftet ein Marienbild, das aus Deutschland importiert wird. Noch größer ist ein halbes Jahr später die Freude über ein anderes Geschenk aus der alten Heimat. Zur feierlichen Einweihung der Liborius-Kirche am 17. Juli 1860 durch Erzbischof Kenrick kommt auch der Bischof aus dem Nachbarbistum Alton auf der Illinois-Seite des Mississippi, Damian Juncker (vom Bistum Alton wird später, 1887, das neue Bistum Belleville abgetrennt). Juncker hat im Jahr zuvor, 1859, bei einer Europareise den Paderborner Bischof Konrad Martin besucht. Und Martin hat dem befreundeten Bischof aus Amerika mehrere Reliquienpartikel des heiligen Liborius mitgegeben. Eine davon überreicht Juncker zur Einweihung der Liborius-Kirche von St. Louis.
1863 nimmt die Liborius-Gemeinde einen Schul-Neubau mit Wohnung für die inzwischen hier tätigen Notre-Dame-Schulschwestern in Angriff. 1865 folgt der Bau eines Pfarrhauses. Pfarrer Schweihoff steht inzwischen in der Seelsorge ein Assistent zur Seite. Von der Cholera, die 1866 in St. Louis wütet, bleibt die Liborius-Gemeinde fast gänzlich verschont. Schweihoffs Assistent erhält 1868 eine eigene Pfarrei. Dessen Nachfolger als Assistent bleibt nur kurz. 1869 folgt diesem mit Engelbert Höynck als Assistent Nummer drei ein Seelsorger, der wie Schweihoff aus dem Bistum Paderborn stammt.
Höynck (1836-1901), als Küstersohn im sauerländischen Balve geboren, ist als Student 1867 in die USA ausgewandert. Während sein jüngerer Bruder Franz Anton bereits 1866 im Paderborner Dom zum Priester geweiht wird, entscheidet sich Engelbert Höynck, der in Deutschland unter anderem Philosophie und Kulturgeschichte studiert hatte, erst in den USA zum Studium der Theologie. Die Priesterweihe empfängt er im Januar 1869 in St. Francis, Wisconsin.
Die Seelsorgearbeit in St. Liborius, St. Louis, ruht bald ganz auf den Schultern dieses Neupriesters, denn Pfarrer Stephan Schweihoff ist schwer krank. Schweihoff sucht Genesung und Erholung in Quincy, Illinois – und stirbt dort am 31. Mai 1869. Engelbert Höynck, erst seit vier Monaten Priester, wird neuer Pfarrer von St. Liborius. Die Gemeinde bleibt damit unter Leitung eines Geistlichen, der seine Wurzeln im Bistum Paderborn hat.
Die St. Liborius-Gemeinde wächst im folgenden Jahrzehnt weiter. 1879 nähert sich die Zahl der Gemeindemitglieder der Marke 2.500. Kirche und Schulhaus sind bald zu klein. Was bedeutet: Auch der zweite Pfarrer der Gemeinde, Engelbert Höynck, ist als Bauherr gefordert. 1885 erwirbt er ein neues Schulgrundstück. Während das neue Schulgebäude Gestalt annimmt, werden Überlegungen, die Kirche zu erweitern, als unzweckmäßig verworfen. Der Bau einer neuen, erheblich größeren Kirche wird in Angriff genommen. Am 16. Juni 1887 wird in der ersten Liborius-Kirche die letzte Messe gelesen. Dann wird sie abgebrochen.
Am 8. September wird auf dem Gelände des alten Gotteshauses der erste Stein zum Bau der neuen Liborius-Kirche gesetzt. Die untere Etage des neuen Schulhauses dient der Gemeinde während der Bauphase zwei Jahre lang als Kirchraum. Die offizielle Grundsteinlegung für die große neue, dreischiffige, neugotische Liborius-Kirche erfolgt im Juni 1888. 10.000 Menschen kommen zu der Feier. Generalvikar von St. Louis, der den Eckstein setzt, ist inzwischen Heinrich Muehlsiepen. Auch
ihm ist nicht nur „Klein-Paderborn“ in St. Louis, das gar nicht mehr klein ist und von vielen Menschen einfach nur „Paderborn“ genannt wird, ein Begriff, sondern auch die gleichnamige Bischofsstadt in Westfalen. Er hat es in seinem Leben schon einmal ganz eilig dorthin gehabt. Muehlsiepen, Jahrgang 1834, stammt aus dem Erzbistum Köln. Als Student hörte er in Essen davon, dass der Generalvikar von St. Louis gerade durch Deutschland tourte, um Verstärkung für den Klerus der Missouri-Diözese anzuwerben. Muehlsiepen brach sofort auf nach Paderborn, um hier noch in die bereits zusammengestellte Reisegruppe aufgenommen zu werden. Es war die Gruppe von 1855, zu der auch der Westenholzer Stephan Schweihoff gehörte.
Am 24. November 1889 wird in St. Louis die neue Liborius-Kirche eingeweiht. Ihr Rohbau hat 95.000 Dollar gekostet. Die hochwertige Innen-Ausstattung in Eichenholz und die bemalten Glasfenster lässt sich die Gemeinde des kunstsinnigen Pfarrers Höynck weitere 55.000 Dollar kosten. (Der 25.000 Dollar teure Turm wird erst zum 50-jährigen Gemeindejubiläum 1907 fertig gestellt.) Der erste Bischof der noch jungen Nachbar-Diözese Belleville, der Rheinländer Johannes Janssen, vollzieht die Kirchweihe. Unter den mehr als 35 teilnehmenden Priestern ist Anton Brefeld aus St. Libory, Illinois, der aus Epe im Kreis Ahaus stammt. Zum Abschluss der Kirchweihe erklingt die Liborius-Hymne.
1890 folgt der Bau des neuen Pfarrhauses. Das silberne Priesterjubiläum von Pfarrer Engelbert Höynck Anfang 1894 wird als dreitägiges Fest begangen. Höynck ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank. Im Mai 1894 reist er nach Europa, um dort Heilung zu suchen. Doch sein Gesundheitszustand bessert sich kaum. Ein Jahr später, Ende Juni 1895, dankt Höynck als Pfarrer von St. Liborius, St. Louis, ab, um in die sauerländische Heimat zurückkehren. Er lebt zurückgezogen in Balve und stirbt dort am 4. November 1901.
Seine ehemalige Pfarrfamilie in St. Louis hat ihn nicht vergessen: Bei einem feierlichen Seelenamt am 15. November 1901 ist die von Höynck erbaute Liborius-Kirche mit Trauerflor behangen. Dem Prediger dieses Tages ist sowohl der heilige Liborius als auch Höyncks deutsche Heimat vertraut: Heinrich Brockhagen aus dem Balver Nachbarort Garbeck ist Rektor der Maria-Himmelfahrts-Gemeinde in O’Fallon im Kreis St. Charles, Missouri. Brockhagen, Jahrgang 1833, ist 1857 in die USA ausgewandert und seit 1859 Priester.
Nachfolger von Pfarrer Höynck als Pfarrer von St. Liborius ist dessen letzter Assistent Georg A. Reis und damit erstmals ein Priester, der aus St. Louis stammt. Im Auftrag seiner Gemeinde reist der neue Pfarrer im September 1902 nach Deutschland, um Engelbert Höynck in Balve ein Grabdenkmal zu setzen – eine Statue des auferstandenen Christus auf einem Marmorblock. Am Fuß des Denkmals ist eine Widmung eingemeißelt: „Zum frommen Andenken an den hochwürdigen Pfarrer Engelbert Höynck, gewidmet von seinen ehemaligen Pfarrkindern der St. Liborius Gemeinde zu St. Louis.“
Gut 60 Jahre später lässt in Balve ein Pfarrer die alten Priestergräber auf dem dortigen Friedhof einebnen – auch das Grab Engelbert Höyncks. Die Christus-Statue ist seitdem
verschollen. Der Marmorblock mit dem Namen Höyncks und der Widmung aus St. Louis landet in einem Balver Vorgarten. Viele Jahre später bemüht sich der dann amtierende Balver Pfarrer Dr. Reinhard Richter um die Rückgabe und hat 2005 Erfolg. Seitdem hat der Gedenkstein seinen Platz unmittelbar am Turm der Balver Kirche, die auch „Sauerland-Dom“ genannt wird. In Balve gibt es auch eine klingende Erinnerung an St. Louis. Zwei Balver Amerikaauswanderer schenkten der St. Blasius-Kirche ihrer Heimatstadt 1926 eine kleine Dachreiterglocke. Sie trägt die Inschrift „Zur Ehre Gottes der Heimat geschenkt von Franz und Heinrich Allhoff St. Louis, Mo. U.S.A. geboren in Balve 1873 – 1883“ und läutet als sogenannte „Kleppglocke“, sobald die großen Glocken verstummen, bis zum Beginn eines Gottesdienstes.
Zurück in die USA. Das 20. Jahrhundert ist wenige Jahre alt, da wird in St. Liborius wieder gebaut. Für die Schulschwestern entsteht 1904/05 ein neues Schwesternhaus neben der Kirche.
Der noch unvollendete Turm von St. Liborius erhält 1907 eine schlanke, hohe Spitze aus filigranem Sandstein-Mauerwerk. Ein vergoldetes Kreuz krönt den Turm. Mit der Gesamthöhe von über 80 Metern zählt dieser „Lace Tower“ genannte Turm „zu den höchsten und schönsten“ Kirchtürmen des Westens, wie die „Chronik einer deutschen Gemeinde“ anlässlich des 50-jährigen Kirchweihfestes der ersten Liborius-Kirche stolz vermerkt. Einer der fünf Altäre der nun, mit der Fertigstellung des Turmes vollendeten zweiten Liborius-Kirche ist diesem Heiligen geweiht.
Das Jubiläumsjahr 1907 führt auch zu Veränderungen innerhalb der St. Liborius-Kirche. „Zwei werthvolle Chorstühle, in kunstvoller Weise geschnitzt, stehen jetzt im Sanktuarium, neue Fenster ersetzen die alten. . .“, ist in der Chronik festgehalten. Drei der vier Fenster über dem Hauptaltar zeigen Szenen aus dem Leben des heiligen Liborius, das vierte den Apostel der Deutschen, Bonifatius.
Einer der beiden 1907 installierten, hohen kirchlichen Gästen von St. Liborius vorbehaltenen Chorstühle, ein Doppelsitzer mit dem geschnitzten Pfau der Libori-Legende auf der Mittellehne, steht heute in Paderborn – als Erinnerung an die westfälischen Auswanderer, die die Liborius-Verehrung in die USA brachten.
Der Hinweis in der Chronik von 1907 belegt, dass dieser Chorstuhl nicht zur Erstausstattung der 1889 eingeweihten zweiten Liborius-Kirche gehörte und damit nicht von Pfarrer Engelbert Höynck, sondern erst unter seinem Nachfolger in Auftrag gegeben wurde. Und die Chronik belegt, dass es zwei solcher Chorstühle in St. Liborius gegeben hat. Auch das war bislang nicht eindeutig geklärt. Ob und wo der zweite Stuhl noch existiert und ob auch auf dessen Lehne ein hölzerner Libori-Pfau thront, ist nicht bekannt.
Dass ein Pfauenstuhl oder Peacock-Chair aus St. Louis 1994 ins ostwestfälische Paderborn kommt, hat allerdings eine eher traurige Vorgeschichte. Sie hat mit dem Niedergang der einst blühenden Liborius-Gemeinde zu tun.
Zwar wagt sich die St. Liborius-Pfarrei 1930/31 noch einmal an einen zeitgemäßen Neubau ihrer Schule heran. Doch schon 1917 – es ist das Jahr, in dem die Gemeinde den letzten Cent ihrer Kirchbauschulden begleicht – sind erste Abwanderungen von „Liborianern“ festzustellen. Immer neue, moderne Wohngebiete entstehen im Westen der Großstadt St. Louis. Und immer mehr Menschen zieht es dorthin. Der zunehmende Straßenbau schneidet sich mit breiten Highways unerbittlich Wege auch durch das Gebiet der Liborius-Gemeinde. Viele Häuser müssen dafür abgerissen werden. In das das früher ruhige „Klein Paderborn“ dringen große Transportunternehmen vor, die viel Platz für ihre Fahrzeugparks und Lager benötigen.
1931 begeht die Liborius-Gemeinde das 75-jährige Jubiläum ihrer Gründung. In Gegenwart des Erzbischofs von St. Louis, John J. Glennon, zelebriert der Bischof von Belleville, Henry Althoff, den Festgottesdienst. 1942 wird die Liborius-Kirche renoviert und am 31. Mai 1943 wieder feierlich eingeweiht. Doch an eine neue Blütezeit der Gemeinde ist nicht zu denken. Zählt St. Liborius 1946 noch 4.263 Katholiken, sinkt diese Zahl in den nächsten zehn Jahren rapide auf 1.192 ab. Nach einem weiteren Jahrzehnt, 1966, leben nur noch 501 Katholiken in St. Liborius, St. Louis. Die Lage sei in jeder Großstadt der USA dieselbe, konstatiert 1956 die Festschrift zum hundertjährigen Gemeindebestehen von St. Liborius resignierend; die großen Innenstadtpfarreien seien nur noch Erinnerungen an eine Zeit großen Glaubens und der Opfer der Vergangenheit. Die aus Paderborn stammenden Liborius-Reliquien, so ist aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts überliefert. werden im Tresor der Pfarrei aufbewahrt und am Liboriustag, der am ersten Oktober-Sonntag begangen wird, zur Verehrung ausgesetzt.
Dass die Tage dieser Gemeinde gezählt sind, wird auch an ihrem Hauptbauwerk, der Kirche, deutlich: An der Spitze des Turmes, der über Jahre ein Wahrzeichen der Nordstadt von St. Louis war, lösen sich Sandsteinbrocken. Für eine Sanierung hat die immer mehr Mitglieder verlierende Pfarrei nicht mehr das nötige Geld. Die fast 23 Meter hohe Sandstein-Turmspitze mit dem darauf montierten fünf Meter hohen Kreuz wird 1965 abgetragen. Der Backstein-Turm von St. Liborius ragt von nun an als Ruine in den Himmel.
Die Gemeinde, in der auch zwei „St. Louiser“ Bürgermeister der Jahre 1973 bis 1981 – John Poelker, Jahrgang 1913, und Jim Conway, Jahrgang 1933 – ihre Kindheit verlebt haben, schrumpft unaufhörlich weiter. 1969 schlägt die letzte Stunde der St. Liborius-Schule. Die ziemlich verlassene Gegend droht in ein Slumviertel umzukippen. Als der Erzbischof von St. Louis, John L. May, 1981 in St. Liborius, einer der größten Kirchen seiner Erzdiözese, den Festgottesdienst zum 125-jährigen Bestehen der von deutschen Einwanderern gegründeten Gemeinde zelebriert, zählt diese nicht einmal mehr 150 Mitglieder. 1991 sind es noch 50. Das sind zu wenig, um die Pfarrei mit ihrem schönen, aber in der baulichen Unterhaltung teuren Gebäudeensemble am Leben zu erhalten.
Die Erzdiözese schließt die zwölftälteste Pfarrei von St. Louis Ende Oktober 1991. Zu dem Zeitpunkt tritt der letzte Pfarrer der Gemeinde, Monsignore John A. Shocklee, in den Ruhestand. St. Liborius wird mit der Pfarrei Most Holy Trinity fusioniert – in diese Gemeindeehe geht die noch verbliebene spärliche Zahl von 25 Katholiken aus St. Liborius. Die hölzerne Statue des Kirchenpatrons St. Liborius, den die Gemeinde in besseren Zeiten im deutschen Rottenburg schnitzen ließ, wird in die Dreifaltigkeitskirche an der 14. Straße gebracht.
Mit anderen Teilen des Kircheninventars von St. Liborius werden 1992 völlig andere Wege beschritten. 33 Stücke landen in Selkirk’s Auktionshaus an der Olive Street, darunter die beiden eichenen Chorstühle von 1907 und zwei Weihwasserbecken aus Carrara-Marmor. Als die im Denkmalschutz engagierte St. Louis Landmarks Association Inc. im Mai 1992 von den Versteigerungsplänen erfährt und öffentlich Protest gegen solchen Umgang mit „der schönsten neugotischen Kirche der Region“ erhebt, ist es bereits zu spät. Die Auktion ist längst fest terminiert. „Wir sind eine arme Pfarrei und brauchen das Geld“, rechtfertigt John Reiker, Pfarrer von Holy Trinity, das Vorgehen. Im übrigen werde nur ein ganz geringer Teil der Ausstattung der Liborius-Kirche versteigert. Der Erlös soll bedürftigen Gemeindemitgliedern zugute kommen – unter anderem durch die Einrichtung einer Lebensmittel-Ausgabe.
Den Zuschlag bei Selkirk’s für den Chorstuhl mit dem Pfau und einen Beichtstuhl erhält ein Kneipenwirt aus O’Fallon im Kreis St. Clair, Illinois, ganz in der Nähe von Belleville, das seit 1990 Paderborner Partnerstadt ist. Das Kirchenmobilar landet im Schankraum seiner Mini-Brauerei.
Bei einem Belleville-Besuch im Jahr darauf kehren die Gründungspräsidentin des Deutsch-Amerikanischen Freundeskreises Paderborn-Belleville, Ellen Rost (1914-2000), und Belleviller Freunde in dieses Brauhaus ein. Rost befindet, dass der Peacock-Chair, Zeichen der Libori-Verehrung durch deutsche Amerika-Auswanderer, einen besseren, würdigeren Platz verdient habe. Sie beauftragt die Belleviller Freunde, mit dem Brauhaus-Wirt über einen Verkauf des Stuhles zu verhandeln. Gesagt, getan. Es sind schwierige Gespräche. Obendrein ist zwischendurch auf einmal der hölzerne Pfau verschwunden.
Aber die Belleviller Freunde haben schließlich Erfolg, machen im Auftrag von Ellen Rost den Kauf perfekt. Der Preis: 1.000 Dollar. Anfangs hat der Wirt hat das Vierfache verlangt. Gut verpackt – inzwischen hat sich, mit gebrochenen Füßen, auch der hölzerne Pfau wieder eingefunden – tritt der Pfauenstuhl im September 1994 eine längere Schiffsreise an. Zielhafen: Rotterdam. Von dort geht es auf der Ladefläche eines Transporters nach Paderborn. Die Zeitung St. Louis Post Dispatch überschreibt ihren Bericht über die ungewöhnliche Aktion: „To Germany with Love.“
Ellen Rost lässt den Stuhl mit seinem reichen Ornament-Schmuck 1995 auf ihre Kosten durch die damalige Paderborner Firma Ochsenfarth Restaurierungen gründlich aufarbeiten. Der hölzerne Pfau erhält neue Füße und kann danach wieder seinen Stammplatz auf der Mittellehne einnehmen.
Per Schenkungsurkunde übergibt Ellen Rost den restaurierten Pfauenstuhl dem Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis. Der stellt ihn am 12.Juli 1995, kurz vor dem jährlichen Liborifest, der Stadt Paderborn als Dauerleihgabe zur Verfügung. Der Stuhl bekommt einen Platz im Rathausfoyer. Der damalige Bürgermeister Wilhelm Lüke: „Der Pfauenstuhl macht sich gut im Rathaus. Hoffentlich gehen die Paderborner pfleglich damit um.“ Sie gehen pfleglich damit um. So manches frisch vermählte Paar, das nach dem „Jawort“ aus dem Trauzimmer gegenüber kommt, nimmt für ein Hochzeitsfoto in dem Doppelsitzer aus St. Louis Platz. Elf Jahre lang erweist sich der Stuhl als echte Bereicherung des Rathausfoyers.
Dann kommt das Jahr 2006. Die seit langem diskutierte Sanierung des Rathaus-Inneren beginnt. Der Pfauenstuhl wird ausquartiert. Für die Dauer der Bauarbeiten – denkt der Deutsch-Amerikanische Freundeskreis. Doch als der Umbau des ersten Hauses der Stadt im Sommer 2007 beendet ist, erfährt Freundeskreis-Präsident Bernd Broer auf Nachfrage vom städtischen Amt für Gebäudemanagement, dass „eine Rückführung ins Rathaus nicht vorgesehen ist“. Eine „verbindliche Erklärung“, die am 26. Mai 1995 vom damaligen Bürgermeister Wilhelm Lüke, Stadtdirektor Dr. Werner Schmeken und dem städtischen Kulturdezernenten Dr. Johannes Slawig unterzeichnet wurde, ist den städtischen Gebäudemanagern, die Regie bei der Modernisierung Rathauses führten, angeblich nicht bekannt. In jener Erklärung sichern die Vertreter der Stadt zu, dass der Pfauenstuhl „als Leihgabe auf Dauer im Foyer des Rathauses aufgestellt wird“ und dass die Stadt für das „historische Kunstwerk“ eine Versicherung abschließt.
In der Erklärung heißt es weiter: „Sollte aus wichtigen Gründen eine Aufstellung im Foyer des Rathauses irgendwann nicht mehr möglich sein, so wird die Stadt Paderborn in Abstimmung mit dem Deutsch-Amerikanischen Freundeskreis einen repräsentativen Ersatzstandort für den Pfauenstuhl festlegen.“ Aber weder kam ein geeigneter Ersatzstandort in Sicht – noch suchte die Stadt zwecks Abstimmung das Gespräch mit dem Freundeskreis.
Für den aus dem Rathaus ausquartierten Pfauenstuhl wird ein Turmzimmer des Neuhäuser Schlosses für viele Monate zur Abstellkammer. Für ein wenig Abwechslung sorgen allein die Westfälischen Kammerspiele. Sie entdecken bei der Vorbereitung ihrer Freifluft-Inszenierung 2007 – im Innenhof des Schlosses hatte am 7. Juni „Die falsche Zofe“ von Pierre Carlet de Marivaux Premiere – den Pfauenstuhl als Kulisse für ein Szenenfoto des Programmheftes.
Der Deutsch-Amerikanische Freundeskreis pocht auf die Vertragstreue der Stadt. „Wir werden darum kämpfen, dass der Pfauenstuhl ins Rathaus zurück kommt.“ So lautet der einstimmige Beschluss, mit dem die Jahresversammlung des 375 Mitglieder zählenden Freundeskreises am 27. September 2007 ein kurz zuvor – und ebenso einstimmig – gefasstes Vorstandsvotum bekräftigt.
Die Stadt verfüge insbesondere durch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nicht über sehr viele historische Erinnerungsstücke. Kunstwerke wie der Pfauenstuhl sollten daher besonders beachtet und geschätzt werden, meint Freundeskreis-Präsident Bernd Broer. Der Standort des Stuhles im Rathausfoyer habe „immer allgemeine Anerkennung“ gefunden, schrieb er an das Amt für Gebäudemanagement. Und bekundete sein „nachhaltiges Erstaunen“, dass der Freundeskreis „nicht gefragt, ja nicht einmal informiert“ worden sei.
Weitere Schreiben, in denen der Freundeskreis-Präsident der Forderung des Freundeskreises Nachdruck verleiht, folgen. Im Dezember 2007 erörtern die Hausherren des Rathauses, Bürgermeister Heinz Paus und seine Stellvertreter Joseph Vögele, Josef Hackfort und Dietrich Honervogt den Fall und beschließen die Rückkehr des schönen Doppelsitzers. Kurz nach Neujahr ist es soweit. Rechtzeitig zur ersten Ratssitzung des Jahres 2008 am 8. Januar steht der schmucke Pfauenstuhl wieder im Foyer. Und der stolze Pfauenvogel auf seiner Mittellehne, frühchchristliches Symbol des Himmels, der Seligkeit und den Glücks, grüßt wieder die Paderborner Brautpaare, die aus dem Trauzimmer gegenüber kommen.
Noch einmal zurück in die Stadt am Mississippi. In der Erzdiözese St. Louis rief die 1993 geäußerte öffentliche Kritik an der Versteigerung von Kircheninventar aus St. Liborius unter anderem Matthew Mitas, einen Priester der Erzdiözese, auf den Plan. Er suchte schon seit längerem nach einer Lösung, Kunstschätze aus geschlossenen Kirchen zentral zu sammeln und zu erfassen, aber auch sakrales Gerät, das einmal für liturgische Zwecke geweiht und verwendet wurde. Die Erzdiözese St. Louis hat allein zwischen 1990 und 2000 mehr als 20 Kirchen geschlossen, und die Versteigerung von 1993 war keineswegs die erste Auktion, bei der Kircheninventar „unter den Hammer“ kam.
Die Bistumsleitung erlaubte Pfarrer Mitas, für seine Initiative eines der größten leer stehenden Gotteshäuser zu nutzen – die einst als „Kathedrale des Nordens“ von St. Louis bekannte St. Liborius-Kirche. Mitas trug dort in den folgenden Jahren mit freiwilligen Helfern zahlreiche Hinterlassenschaften aus still gelegten Gotteshäusern zusammen. In diesem sakralen Second-Hand-„Laden“ St. Liborius konnten sich andere Pfarreien, die Bedarf etwa an einer Heiligenstatue oder an einem Heiligenbild hatten, bedienen. Zwei marmorne Seitenaltäre von St. Liborius wurden auf diese Weise zum neuen Hauptaltar von St. Genevieve in dem Ort gleichen Namens. Eine Vollmacht, die ihm in den vor ihrer Schließung stehenden Gemeinden Autorität für diese Arbeit verschafft und sein Engagement erleichtert hätte, erteilte die Erzdiözese Mitas indes nicht. Ein paar Jahre später bildete die Bistumsleitung ein offizielles „Office of Reclamations“, das nun für diese Aufgabe zuständig ist. Seitdem wird auch Ordensgemeinschaften, Schulen und anderen Einrichtungen der Erzdiözese ermöglicht, im großen religiösen Fundus, der mittlerweile von St. Liborius in das Johannes XXIII.-Center in South County umgezogen ist, Ausschau nach wieder verwendbaren Kunstwerken und religiösen Gegenständen – auch Glocken gehören zum Angebot – zu halten. Initiator Pfarrer Mitas wurde 2001 von seiner bis dahin ehrenamtlich geleisteten Aufgabe entbunden.
Völlig ausgestorben ist die ehemalige Pfarrkirche St. Liborius seitdem jedoch nicht. Das frühere Schwesternhaus der Pfarrei, so zeigt sich bei einem Besuch im Herbst 2007, wird für Angebote der Kinderbetreuung genutzt, das Pfarrhaus bietet einer betreuten Wohngemeinschaft ehemaliger Drogenabhängiger Platz. Und die aus dem Verkaufserlös der Mai-Auktion 1993 eingerichtete Lebensmittel-Ausgabe für Bedürftige öffnet einmal pro Woche im Kellergeschoss der verriegelten Kirche, an der allerdings Spuren von Vandalismus mittlerweile unübersehbar sind. In dem Namen jener kirchlichen Organisation, die zur Gemeinde Holy Trinity gehört und diese Lebensmittel-Ausgabe („Food-Pantry“) sowie an anderer Stelle in St. Louis mit Ehrenamtlichen weitere soziale Dienste anbietet, lebt der Kirchenpatron aus Paderborn weiter: Sie heißt „St. Liborius Social Ministries“.
(Stand: 19.1.2008)